Menschenliebe

Menschenliebe heißt, dass ich die Menschen liebe, wie sie sind, dass ich mich über sie freue, wie sie sind, dass ich mich als ihnen gleich erkenne und jeden in seiner Einzigartigkeit liebe, ohne den Wunsch, dass er anders sei, als er ist. In diesem Sinne liebe ich auch sein Schicksal, wie es ist, selbst wenn ich es nicht verstehe, selbst wenn es mich herausfordert, mich auch einschränkt, mir eine Bürde auferlegt. Sein Schicksal ist nicht anders als meines, wenn ich sein und mein Schicksal als vorherbestimmt erfasse, und in diesem Sinne auch unausweichlich.

Dann sehe ich ihn und mich größeren Kräften ausgeliefert und untertan, denen er und ich uns gleichermaßen fügen, was immer es uns an Freud und Leid ermöglicht und zumutet. Aus der Zustimmung zu diesen Mächten erwächst die wahre Menschenliebe, jedem gleichermaßen zugewandt, weil sie sich weder besser noch schlechter, weder größer noch kleiner weiß, sondern allen vor etwas Größerem ebenbürtig und gleich.

Was steht der Menschenliebe entgegen? Das Urteil, dass die einen besser und die anderen schlechter sind. Denn dann bestimme ich in meinem Herzen, wer geliebt und wer nicht geliebt werden darf, wer menschenwürdig oder menschenunwürdig ist, und letztlich darüber, wer leben darf und wer nicht.

Wer über andere urteilt, muss fürchten, dass andere auch über ihn urteilen. Ob gerecht oder ungerecht, spielt hier keine Rolle, denn jedes Urteil ist am Ende ungerecht, weil anmaßend. Es überhöht sich über das Leben und das Schicksal anderer, als sei das eigene Leben und das eigene Schicksal anders und menschlicher als das der anderen. Oder – so könnte man auch sagen – als sei es Gott näher und ihm wohlgefälliger als das der anderen und als könnten wir gleichsam in Gottes Namen über das Leben und das Schicksal anderer befinden und darüber richten, als seien wir an Gottes Stelle.

Die Menschliebe ist vor allem demütig. Diese Demut gelingt uns umso leichter, je mehr wir uns und die anderen Menschen nicht nur als Einzelne sehen, sondern eingebunden in ihre Familie, in die Schicksale dieser Familie, in das besondere Gewissen dieser Familie und daher ihrer Familie auch treu. Andere Menschen sind ihrer Familie genauso treu wie wir. Sie sind durch ihre Familie genauso begrenzt wie wir. Sie sind in die Schicksale ihrer Familie genauso verstrickt wie wir und in dieser Hinsicht genauso arm und reich wie wir. Auch sie sterben zu ihrer Zeit genau wie wir und sinken ins ewige Vergessen, gleichsam ohne Spur; genauso wie wir.

Also, achten wir uns gegenseitig, solange wir da sind, und lieben wir uns mit Achtung, weil wir da sind, verschonen wir uns auch voreinander und lassen uns in dieser Liebe für unser je Eigenes frei. Vor allem lassen wir einander frei für unser je eigenes Schicksal, auch für unsere je eigene Schuld, für unsere je eigene Vollendung und unseren je eigenen Tod.

Standing Rock